Die Dichterlesung

ein Erfahrungsbericht von Gerhard Krenn

Lesungen sind Vorträge von Leuten, die zu faul sind zum Auswendiglernen.

 

Meistens lesen die Dichter selbst, weil sie glauben, dass ein Fremder die hintergründig verborgene Genialität des Textes niemals zu vermitteln vermag. Immerhin ist es ein epochales Kulturereignis, wenn der Künstler selbst aus seinen Werken liest.

 

Hier werden ja nicht einfach Texte gelesen, hier werden evangeliumshafte Botschaften an die Welt zelebriert! Wichtige Botschaften erkennt man daran, dass sie kein Mensch versteht.

Nur Sätze wie dieser sind also wichtig:

 

WINTERLICHER GREISENGEIZ WEHT DAS KNORRIGE AUFWIEGELN HERBSTLICHEN MORGENREIFES  IN DIE GRUFT DES VERGÄNGLICHEN. –

 

Das ist ein Satz! Genial! Unverständlich!

Wie konnten Sie bisher ohne diesen Satz überhaupt existieren?

 

Ein Fremder - oder gar ein Schauspieler, der bei jedem Satz nur an sich und seinen Abschlussapplaus denkt – eine Banause also würde diesen Satz lesen, als stünde dort einfach:

„DER HERBST VERGEHT, DER WINTER KOMMT.“ –

 

Kein Hauch von Gruft! Keine Anklage gegen die geizige, verkommene Gesellschaft. Kein Gefühl für dichterischen Formulierungswahn! Keine deftige, ja beinahe ordinär direkte Gesellschaftskritik!

 

Nein, nur der Dichter selbst - und nur er - kann lesen. Nur er kann - wie der Anästhesist - ein Publikum einschläfern.

 

Es muss nicht Peter Handke sein - übrigens ein Meister schnell wirkender  Vortragsnarkosen - nein, auch so manch anderer Dichter verfällt schon nach wenigen Sätzen in raunzende, immer leiser werdende Monotonie, um dann der sanft dahindösenden Zuhörerschaft ihre Kulturlosigkeit unverschlüsselt und beinhart an den Kopf zu werfen, indem er sich dramaturgisch geübt zu einem „Sie können mich alle am Arsch lecken!“ versteigt.

 

Die dermaßen Aufgeforderten applaudieren heftig, weil ihnen endlich jemand die Quintessenz aller Philosophie hineingeschmettert hat und weil das Arschlecken heutzutage auch schon zur Hochkultur gehört.

 

Der lesende Dichter im Allgemeinen blickt - angesichts der Wichtigkeit, die er sogleich zu verbreiten gedenkt - still und vorwurfsvoll in die unruhig an Uhren, Knöpfen und Handys nestelnden Reihen. Wer sich bewegt - oder sich gar räuspert - hat die knisternde Bedeutung der Stunde nicht begriffen.

 

Der Dichter schließt meditativ die Lider, blinzelt aber, um dem Publikum zu zeigen, dass er genau sieht, wer jetzt noch hüstelt.

 

Und indem er demütig den Kopf zur Seite beugt -  welch inniges Zeichen erhabener Demut, Hingebung an längst getrunkene Küsse der Musen, Friede überall, nur Friede! – indem er sich also anschickt, sogestalt Gestalt anzunehmen, bedeutet er im Grunde nur, dass außer ihm eh alle scheissen gehen können.

 

So frei wird ein Dichter ja noch sein dürfen!

 

„WINTERLICHER GREISENGEIZ WEHT DAS KNORRIGE AUFWIEGELN HERBSTLICHEN MORGENREIFES  IN DIE GRUFT DES VERGÄNGLICHEN.“ –

 

Allgemeine Ergriffenheit. Besonders beim Dichter.

Einige überprüfen aus dringlicher Begierde nach Aktivität irgendetwas an ihren Körpern – Kleidung, Schminke, Nasenhaar, Deodorant und was sonst noch alles den einfachen Menschen ausmacht. Nichts wäre peinlicher als mit einem destruktiven satanischen Geräusch, mit fatalem Aussehen oder fäkalen Düften die Monotonie zu zerreißen und den Dichter dergestalt zu reizen, dass dieser sich anschickte, strafweise noch eine Draufgabe anzukündigen.

 

Doch nichts dergleichen geschieht. Der Dichter liest, die Zuhörer sind zu. Wenige hören.

Und irgendwann ist der Text zu Ende. Welcher auch immer…

Stille.

 

Der Dichter denkt: „So, jetzt seid Ihr zerschmettert und werdet mein Buch kaufen.“

 

20 Prozent der Zuhörer aber fragen im nagenden Innern: „Davon kann man leben?“

70 Prozent applaudieren mit zaghafter Unschlüssigkeit: „Zu kurzes Klatschen bedeutet, ich hätte den Text nicht verstanden, zu langes Klatschen wäre aber eine Aufforderung zum Weitermachen. Am besten: Man klatsche so lange wie der Sitznachbar.“

 

Und 10 Prozent sind stolz, etwas für die Kultur getan zu haben. Immerhin wurde man auch gesehen.

 Ja ja, lesen kann er, der Dichter.

 Ob er auch schreiben kann - das weiß man nach einer Dichterlesung nie.